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Wenn die Straße sich himmelwärts neigt

Die Baumgrenze liegt schon weit unter dir. Die Luft wird dünner, und du konzentrierst dich auf gleichmäßige Atmung, während du dich im kleinsten Gang Meter um Meter, Serpentine für Serpentine emporarbeitest. Jede Kehre erschließt neue Perspektiven: auf die abweisende Welt der eisgepanzerten Bergriesen ringsum – und auf dich selbst, der du die Herausforderung dieser Straße angenommen hast.

Einen Pass im Gebirge zu überqueren ist die wohl höchste denkbare Steigerungsform des Fahrradfahrens. Egal wie viele Jahre man schon auf zwei schmalen Reifen durch die Welt reist, ob man solo oder in einer Gruppe, mit sportlichem Ehrgeiz oder touristischer Muße unterwegs ist: Am Fußpunkt des Berges ist man immer wieder ganz am Anfang. Und ganz allein.

Sobald die Straße sich himmelwärts neigt, beginnt ein völlig anderes Radfahren als in der Ebene. Für die nächsten zwei, drei Stunden kann man nicht mehr mal kurz den Druck vom Pedal nehmen, um ein paar Meter locker zu rollen und den Schwung auszunutzen. Abwechselnd im Windschatten des Freundes Kraft sparen? Fehlanzeige bei 15 oder auch nur zehn km/h. Während die Durchschnittsgeschwindigkeit sinkt, beschleunigt sich der Pulsschlag. Die Dimensionen verschieben sich: Es ist völlig belanglos, wie viele Kilometer man an diesem Tag noch zurücklegen wird – was zählt, ist das Erreichen der nächsten Spitzkehre.

 
  Eine Kehre auf der Kammstraße des Verdon-Canyons (18-mm-Objektiv)
 

Das Problem, eine Passhöhe zu „erobern“, ist in den seltensten Fällen ein physisches. Jeder, der in der Lage ist, einen ganzen Tag lang durch die windige norddeutsche Tiefebene zu radeln, sollte körperlich fit genug sein, aus eigener Kraft zum Col du Galibier zu gelangen. Die eigentliche Herausforderung besteht in der Willensanstrengung, sich auf den mitunter nicht enden wollenden Kampf gegen die Schwerkraft überhaupt einzulassen, sowie darin, seine individuellen physischen Möglichkeiten und Grenzen zu erkennen und seinen Fahrstil darauf einzustellen, ohne sich vom Tempo anderer Radler beeinflussen zu lassen.

Der Lohn der Mühsal ist vielfältig: Auf dem schweißtreibenden Weg nach oben lernt man sehr viel über den eigenen Umgang mit äußeren und inneren Widerständen; das Erlebnis der meist grandiosen Landschaft ist intensiver, als es hinter der Windschutzscheibe je denkbar wäre, ebenso das Wechselbad der Emotionen, dem man an einem langen Tag im Sattel typischerweise ausgesetzt ist; und wer aus eigener Kraft den höchsten Punkt der Straße erreicht hat, kann das berauschende Glücksgefühl schwerelosen Gleitens bergab doppelt genießen.

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Als jahrhundertealte Kulturlandschaft und bedeutendes Tourismusgebiet sind die Alpen bis in ihre Hochlagen erschlossen; ein erstaunlich engmaschiges Netz von Straßen und Wegen sowie Unterkünfte für jeden Geschmack bieten perfekte Voraussetzungen für abwechslungsreiche Radtouren. Wer nur eine Woche Zeit hat, kann beispielsweise den Hauptkamm von Süddeutschland nach Norditalien oder vom Genfer See bis zum Mittelmeer überqueren und vom Zielort mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückreisen; in zehn oder 14 Tagen sind anspruchsvolle Rundstrecken mit zwei kompletten Alpenüberquerungen möglich. Schon die Planung solch einer Reise durchs Hochgebirge kann wochenlang (Vor-)Freude bereiten.

Meine erste Alpentour habe ich Anfang der neunziger Jahre unternommen – mit einem einfachen Mountainbike, billigster Ausrüstung und ohne jede Vorstellung davon, was mich erwarten würde. Ich bin einfach aufs Geratewohl mit der Bahn nach Garmisch-Partenkirchen gefahren und dann über Fernpass, Reschenpass und das Stilfser Joch (von der eher langweiligen Schweizer Seite aus) in die Dolomiten gestrampelt, wo sich eine Rundtour um die Sella-Gruppe als landschaftlicher Höhepunkt der Route erwies. Die Bahn-Rückreise sollte vom Bodensee losgehen, aber auf dem Weg dorthin haben dem Eisregen am Timmelsjoch weder die Packtaschen noch meine Pseudo-Regenbekleidung standgehalten. – In solchen Situationen zeigt sich übrigens ein wesentlicher Vorteil des Radelns im Gebirge: Wenn man keine Kraft oder Lust mehr hat, dreht man um und lässt das Rad rollen. (Zugegeben: Klatschnass und durchgefroren kann man eine steile Abfahrt nur bedingt genießen.) Und im Tal findet sich fast überall eine Bahnstation oder Bushaltestelle, von wo man die Fahrt gegebenenfalls mit fremder Hilfe fortsetzen kann.

Nach dieser ersten Tour wusste ich zumindest, dass mir die Sache Spaß macht – und dass meine Ausrüstung Optimierungsbedarf hatte. Seither bin ich jedes Jahr für eine bis zwei Wochen in den Alpen unterwegs. Anfangs habe ich noch Zelt und Schlafsack auf einem robusten 26-Zoll-Reiserad über die Berge transportiert. Da aber an steilen Rampen zehn Kilo zusätzlichen Gepäcks stärker ins Gewicht fallen als im Flachland und in höher gelegenen Regionen Campingplätze ohnehin Mangelware sind, bin ich in den letzten Jahren meist mit nur noch zwei Packtaschen auf dem Rennrad unterwegs und übernachte in Pensionen, Hotels oder Privatzimmern größerer Orte, wo man auch in der Hauptsaison meist noch gut ein Plätzchen für eine Nacht findet.

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