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Pro und contra Radhelm:
Die Diskussion geht weiter

In der „Pett man sülm!“ 4/04, der Zeitschrift des ADFC Schleswig-Holstein, fand sich ein für mein Empfinden wenig differenzierter Artikel (leider nicht online; einige Inhalte der letzten PMS-Ausgaben lassen sich übrigens hier nachlesen) über den Nutzen des Radhelms, auf dessen Lektüre hin ich der Redaktion mein kleines Faltblatt zusandte. Dies wurde in der Ausgabe 2/05 der PMS abgedruckt, zusammen mit einer Erwiderung des Autors des ursprünglichen Artikels. Der Verfasser, Wolfgang Raabe, stellte mir freundlicherweise das Manuskript seiner Replik zur Verfügung; es ist im Folgenden unverändert dokumentiert.

Meine Stellungnahme zu seiner Erwiderung (die leider nicht mehr in der PMS abgedruckt werden wird) ist hinten angehängt. Näheres zu der von mir zitierten Göppinger Studie findet sich beispielsweise bei Wolfgang Strobl.

Ein wenig schade finde ich, dass Wolfgang Raabe seine Replik primär auf die gegenstandslose Behauptung stützt, ich berücksichtigte in meiner Kritik nur eine einzige Studie. Bemerkenswert auch, wie bei ihm aus tödlichen Strangulations-Unfällen (auch im Juni 2005 war in Deutschland wieder ein solcher zu beklagen) lediglich schwere Verletzungen werden. Aber lesen Sie selbst:

 

<WR>

Es ist gut, wenn in der Pett man sülm! kontrovers diskutiert wird, und es schadet auch nichts, wenn dabei die eine oder andere spitze Bemerkung fällt. Die Redaktion würde sich viel mehr so engagierte und ausführliche Zuschriften wünschen wie die von Christian Wöhrl.

Die Meinungsunterschiede sind nicht so groß, wie aus dem Leserbrief geschlossen werden könnte. Immerhin gibt es etliche Kernpunkte, in denen Christian Wöhrl und ich völlig übereinstimmen. Nämlich:

  • Helme bieten keinen absoluten Schutz, auch nicht vor Kopfverletzungen.
  • Maßnahmen zur Sicherung der Verkehrsabläufe (Verkehrsberuhigung, gesicherte Querung von Hauptstraßen usw.) schaffen vermutlich mehr Sicherheit als das Tragen von Fahrradhelmen.
  • Rad fahren ist gesund. Das Risiko durch Unfälle ist mit und auch ohne Helm weit geringer als der Nutzen für Gesundheit und Lebenserwartung. Es sollte deshalb alles unterbleiben, was eine verminderte Nutzung des Fahrrads zur Folge hat.
  • Eine gesetzliche Helmpflicht mindert nachweislich nicht das individuelle Risiko von Verletzungen, sondern führt lediglich zu einem erheblichen Rückgang der Fahrradnutzung. Sie ist deshalb strikt abzulehnen.

Zwei Punkte können allerdings nicht unwidersprochen bleiben, weil sie erstens sehr wichtig und zweitens sachlich falsch dargestellt sind. Entgegen den Äußerungen von Christian Wöhrl gibt es nicht nur eine Untersuchung, die die Wirksamkeit von Fahrradhelmen im Fall eines Unfalls untersucht – und nur in dieser Frage gibt es einen Dissens. Viel mehr basiert z.B. die von mir exemplarisch erwähnte Übersichtsarbeit (Elizabeth Towner u.a.: Bicycle Helmets: Review of Effectiveness (als PDF-Datei kostenlos verfügbar [Link eingefügt von ChW])) auf 16 Originalarbeiten bzw. 14 Datenerhebungen zu allein diesem Themenkomplex. Alle Untersucher kommen dabei übrigens zu dem Ergebnis, dass Fahrradhelme im Fall eines Unfalls eine Schutzwirkung ausüben; lediglich über das Ausmaß der Risikominderung herrscht keine Übereinstimmung.

Das von Christian Wöhrl ausschließlich zitierte Bulletin der Schweizer Velokonferenz steuert zu diesem Thema keine neuen Sachdaten bei. Die Autoren beschränken sich darauf, zurecht methodische Fehler einer einzigen Untersuchung zu kritisieren – was im übrigen auch in der von mir zitierten Übersicht geschieht. Alle übrigen Arbeiten werden schlicht ignoriert, stattdessen werden zahlreiche Analogieschlüsse versucht und Hypothesen aufgestellt, die zwar interessant sind, aber nirgendwo belegt werden und teilweise bereits wissenschaftlich widerlegt sind. Sachlich zutreffend dürfte allerdings der Hinweis auf schwere Strangulationsverletzungen bei Kindern sein, die auf Klettergeräten Helme getragen hatten.

Zur Ehrenrettung der Velokonferenz – deren aktueller Anlass die geplante Einführung einer Helmpflicht in der Schweiz war – sei erwähnt, dass die Veranstalter das freiwillige Tragen von Fahrradhelmen durchaus befürworten. In der Ablehnung einer gesetzlichen Helmpflicht besteht ohnehin Einigkeit; diese wird im genannten Bulletin auch gut durch Daten begründet.

Mängel der Infrastruktur, teilweise Rücksichtslosigkeit motorisierter Verkehrsteilnehmer, eine ungenügende politische Aufklärung und Einflussnahme zur Förderung gesunder und umweltverträglicher Verhaltensmuster und nicht zuletzt auch der „innere Schweinehund“ des einzelnen sind dafür verantwortlich, dass die Nutzung des Fahrrades als Verkehrsmittel und Freizeitgerät in Deutschland nicht so weit verbreitet ist, wie dies möglich wäre. Christian Wöhrl lastet in seiner Schlussfolgerung die Schuld für die mangelnde Nutzung des Fahrrades auch denjenigen an, die sich freiwillig dafür entscheiden, ihre Gesundheit durch einen Helm zu schützen. Dieser Vorwurf ist rein spekulativ; vor dem Hintergrund der gesicherten Fakten muss er als ignorant und geschmacklos zurück gewiesen werden.

</WR>

 

<ChW>

Der Stellungnahme von Wolfgang Raabe zu meinem Beitrag entnehme ich mit Freude, dass wir zur Radhelm-Problematik in den meisten Punkten übereinstimmen. Dennoch gibt es auch nach seiner Replik noch Diskussionsbedarf:

Wo Herr Raabe in meinen Ausführungen die Behauptung findet, es gebe nur die eine von mir genannte Studie zur Wirksamkeit von Radhelmen, bleibt sein Geheimnis (auch das genannte Bulletin der Schweizerischen Velokonferenz beschränkt sich keineswegs auf diese eine Studie). Richtig ist, dass ich in meinem Faltblatt exemplarisch eine einzige der am häufigsten zitierten Untersuchungen kritisiere und dass ich darauf verzichtet habe, doppelt und dreifach auf den Beispielcharakter meiner Ausführungen hinzuweisen.

Doch auch wenn man berücksichtigt, dass weltweit mehrere Dutzend Studien zur Wirksamkeit des Radhelms vorliegen, sollten die Grundschwierigkeiten der diesbezüglichen Datenerhebung und -auswertung nicht unbeachtet bleiben (denn hier dürfte einer der Gründe dafür liegen, dass zwei Menschen dieselben Studien lesen und diametral verschiedene Schlüsse daraus ziehen können):

Zuallererst ist da der prinzipiell erfreuliche Umstand zu nennen, dass es einfach nicht genug schwere Fahrradunfälle gibt, um wirklich vergleichbare Daten zu erhalten. Deutlich wird das Vergleichbarkeits-Problem vielleicht an folgendem Beispiel: Person A trägt einen Fahrradhelm und stürzt beim langsamen Manövrieren in der Hofeinfahrt so unglücklich, dass sie eine minderschwere Gesichtsverletzung erleidet. Person B trägt keinen Helm und wird mit Todesfolge von einem Sattelschlepper überrollt. In einer Unfallstatistik finden wir nun zwei Unfälle mit Kopfverletzung, wobei derjenige ohne Helmtragen tödlich verlief. Dass in Fall A die Abwesenheit eines Helms nicht weiter geschadet, ein noch so stabiler Radhelm in Fall B aber nichts genutzt hätte, lesen wir in der Statistik vermutlich nicht. Je enger man nun, um solcherlei Klippen zu umschiffen, die Kriterien fasst, die in die Auswertung eingehen (z.B. „nur Schädel-Hirn-Verletzungen“), desto kleiner wird die verfügbare Datenbasis – bis an den Punkt, an dem keine sinnvollen statistischen Aussagen mehr möglich sind.

Ein damit verwandtes Problem besteht in der menschlichen Eigenart, überall nach Gründen zu suchen und auch dort welche zu finden, wo sich keine nachweisen lassen. Betrachten wir, wiederum exemplarisch, einmal die Studie

„Schädel-Hirn-Trauma nach Fahrradsturz – welchen Einfluß hat der Schutzhelm?“ G. Kelsch, M. U. Helber, C. Ulrich, Unfallchirurgische Klinik am Eichert, Göppingen, Unfallchirurg (1996) 99, 202–206,

die ebenfalls gern zum „Beweis“ der Wirksamkeit von Radhelmen herangezogen wird:

Hier wurden 76 Fahrradunfall-Opfer mit Schädel-Hirn-Trauma erfasst. 13 davon (also 17,1 Prozent [1]) hatten einen Helm getragen, 63 nicht. Aus der großen Gruppe der Unbehelmten starben letztlich zwei, von den Helmträgern keiner. Was aber können diese Zahlen beweisen? Nun, würden wir in der Studie überall „Radhelm“ durch „Vollbart“ ersetzen, es wäre nicht überraschend, dass sich die zwei Todesfälle aus den knapp 83 Prozent Glattrasierter rekrutieren: Die Verteilung der Todesfälle wäre im Rahmen simpler Wahrscheinlichkeitsrechnung völlig erwartungsgemäß, und wohl niemand würde behaupten, dass unrasiertes Radfahren das Todesfall-Risiko mindert. Dem Helm jedoch wird bei identischen Voraussetzungen ein Kausalzusammenhang zugebilligt, weil wir gern einen Zusammenhang sehen wollen – mit seriöser Mathematik lässt sich das auch aus dieser Quelle nicht ableiten.

Einschub im Juni 2005: Wie um diesen Punkt zu illustrieren, ist in der „Pett man sülm!“ 3/05 ein weiterer Leserbrief abgedruckt. Der Autor, anscheinend Mediziner, unterstützt Herrn Raabes Position unter Hinweis auf mehrere ihm bekannte Fahrradunfälle mit Todesfolge und belegt in wohlgesetzten Worten, dass die Affinität zum Irrationalen kein Privileg unterer Bildungsschichten ist.

Zweifellos kann jeder einzelne Todesfall Anlass sein, sich der eigenen Verwundbarkeit gewahr zu werden, den Fahrstil oder auch (erstes Beispiel des Leserbrief-Autors) den Nutzen von Radwegen kritisch zu hinterfragen, allein: Mit Radhelmen hat all das nicht das Geringste zu tun. Denn Zusammenhänge zwischen filigraner Kopfbedeckung und Unfallfolge zu konstruieren ist im (posthumen) Einzelfall müßig-spekulativ und im Allgemeinen nur unter beherzter Missachtung der Regeln elementarer Logik zu leisten.

Was zudem keine der zahlreichen Studien zum Thema leisten kann, ist die Untersuchung, welche Unfälle mit Kopfverletzungsfolge überhaupt erst durch das Helmtragen verursacht wurden. Notabene: Ich unterstelle nicht, dass das nennenswert viele sind – da ich in meinem Radfahrerleben allerdings mehrere zehntausend Kilometer mit Helm zurückgelegt habe, weiß ich, dass auch die gut belüfteten Modelle gewisse Komfort-Einbußen mit sich bringen; ein kleiner Teil der Müdigkeit nach einem langen Radeltag und damit ein geringfügig erhöhtes Unfallrisiko geht also auf das Konto des Radhelms; für eine seriöse Risiko-Nutzen-Analyse wäre das mit seiner (von mir nicht prinzipiell abgestrittenen) bescheidenen potenziellen Schutzwirkung bei einem Bruchteil aller denkbaren Radunfälle zu verrechnen.

Abschließend sei nochmals auf die Frage der Abschreckung eingegangen. Dass eine Helmpflicht einen signifikanten Anteil der Bevölkerung vom Radfahren abhalten würde, bestreitet heute außer ein paar profilneurotischen Bundestags-Hinterbänklern niemand mehr, auch Herr Raabe stellt das in seiner Erwiderung fest. Ist es dann nicht blauäugig, abzustreiten, dass die zunehmende Präsenz behelmter Radler im Straßenverkehr auch ohne legislativen Nachdruck schlechten Einfluss auf potenzielle Radfahrer ausüben kann? Wer ohnehin das ganze Jahr über radelt und in seinem sozialen Umfeld viele Gleichgesinnte hat, wird diesen Einfluss vermutlich nicht empfinden. Aber wer vielleicht zehn Jahre mit Radeln ausgesetzt hat und jetzt wieder „an der Schwelle“ steht, dem wird sich angesichts steigender Helmtragequoten der Eindruck aufdrängen, dass Radfahren heute offensichtlich sehr viel gefährlicher ist als früher – möglicherweise mit den entsprechenden, bedauerlichen Konsequenzen.

</ChW>

 

Also, liebe Radhelmträger: Macht ruhig weiter Werbung fürs Autofahren; denn genau das ist die Botschaft, die beim Volk ankommt, wenn ihm penetrant demonstriert wird, wie unglaublich gefährlich das Radfahren doch ist. Nur sonnt euch bitte nicht länger in dem Irrglauben, mit dieser Unsitte der Sache des Radfahrens einen Dienst zu erweisen.

 

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[1] Fuhren wirklich bereits 1996 mehr als ein Sechstel aller Radler mit Helm? Oder sind Helmträger, warum auch immer, eine besondere Risikogruppe? Auch solche Fragen könnten sich stellen, wenn man denn bereit wäre, Schlüsse aus der dürftigen Datenbasis zu ziehen.

Zuletzt aktualisiert im Juli 2005